Justice Collective geht in den Bundestag!
Am Montag, den 17. April 2023, wird Justice Collective vor dem Rechtsausschuss des Bundestages zu den geplanten Reformen der Ersatzfreiheitsstrafe aussagen.
Jedes Jahr werden etwa 56.000 Menschen inhaftiert, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen können. Anstatt diese Ungerechtigkeit zu beenden, schlägt der aktuelle Gesetzentwurf nur bescheidene Änderungen vor: die Halbierung der Anzahl der Tage, die Menschen im Gefängnis verbringen, und die Bereitstellung zusätzlicher Informationen für die Menschen über gemeinnützige Arbeit und Ratenzahlung. Diese Änderungen werden nicht dazu beitragen, dass jedes Jahr 56.000 Menschen nicht ins Gefängnis müssen. Justice Collective wird die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fordern und darlegen, warum andere Lösungen keine wirkliche Veränderung bewirken werden.
Unsere vollständige Stellungnahme finden Sie hier, und einige Auszüge nachfolgend.
Zunächst argumentieren wir, dass die Probleme mit der Ersatzfreiheitsstrafe aus drei Gründen strukturell bedingt sind:
Das erste systemische Problem ist, dass Geldstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen Armut bestrafen. Menschen, die wegen Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert werden, haben ein geringeres Einkommen und werden oft für Vergehen bestraft, die entweder direkt mit ihrer Armut zusammenhängen, oder weil Armutsbetroffene für weit verbreitete Verhaltensweisen eher kontrolliert werden.
Das zweite strukturelle Problem des Systems besteht darin, dass es sich überproportional gegen rassifizierte und migrantisierte Gruppen richtet. Durch Racial Profiling von der Polizei werden Menschen aus rassifizierten Gruppen unverhältnismäßig häufig kontrolliert und daher auch unverhältnismäßig häufig für geringfügige Vergehen mit Geldstrafen belegt. Rund 38% der Geldstrafen werden gegen nicht-deutsche Staatsangehörige verhängt.
An dritter Stelle lässt sich zwar hoffen, dass Gerichte diese Ungerechtigkeiten eindämmen. Allerdings wird eine solche Hoffnung aufgrund des rechtlichen Rahmens und einer nur schwer zu ändernden Gerichtskultur mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden.21 Bei geringfügigen Straftaten sind die Gerichte ausdrücklich darauf ausgerichtet, Massenverfahren schnell abzuwickeln, was oft auf Kosten der Genauigkeit und Gerechtigkeit geht. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Gerichte in der Regel keine individuellen Ermittlungen über die finanziellen Verhältnisse der Betroffenen anstellen, sondern stattdessen Raten für Geldstrafen festlegen, die in der Regel von ihrer Behörde vereinbart und auf alle Fälle angewendet werden.
Da die Probleme strukturell bedingt sind, werden kleine Korrekturen das System nicht verändern. Im zweiten Teil unserer Stellungnahme legen wir genau dar, warum die oft erwähnten Reformideen angesichts des geltenden Rechts, der Verfahren und der Gerichtskultur nicht viel ändern werden, sondern das System sich selbst neu erschaffen lassen.
Zum Beispiel:
Gerichtliche Anhörung vor Antritt einer Ersatzfreiheitsstrafe: Es ist eine rechtsstaatliche Farce, dass Menschen durch Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert werden können, ohne jemals einen Richter oder eine Richterin gesehen zu haben. Wir sollten uns aber auch darüber im Klaren sein, dass diese Lücke im Verfahrensschutz nicht erst durch eine Anhörung unmittelbar vor der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe gelöst werden kann. Um Ersatzfreiheitsstrafen zu verhindern, kommt dieser Schritt aber zu spät und ist zu wenig. Nach geltendem Recht hätten Richter*innen nicht die Möglichkeit, den Fall erneut zu prüfen und beispielsweise den Tagessatz oder die Anzahl der Sätze zu verringern. Sie hätte auch keinen großen Ermessensspielraum, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen, mit Ausnahme der Anwendung von § 459f im Falle einer „unbilligen Härte“. Richter*innen und Staatsanwält*innen können daher nur Ratenzahlung oder gemeinnützige Arbeit anbieten – doch wie ich bereits erläuterte, sind Betroffene nicht dazu in der Lage, diese Möglichkeiten zu nutzen. Schließlich würde eine Anhörung auch dann nichts bringen, wenn Richter*innen die Möglichkeit hätten, die Geldstrafe neu zu berechnen oder die ursprüngliche Strafe anderweitig zu ändern. Nach § 40 des Strafgesetzbuchs sollten Geldstrafen „in der Regel“ auf der Grundlage des „tatsächlichen durchschnittlichen Tagesnettoeinkommens“ der betroffenen Person festgesetzt werden, d. h. ihres vollen Bruttoeinkommens ohne Abzüge für Ausgaben. Das Gesetz erlaubt den Gerichten auch, „die persönlichen und finanziellen Umstände“ zu berücksichtigen. In der Praxis setzen die Gerichte, wie oben beschrieben, den Tagessatz oft in Höhe des Nettoeinkommens fest, auch bei Hartz-IV-Beziehenden, sodass der Tagessatz 15 Euro betragen würde. Letztlich geht es bei der Ermittlung der Zahlungswilligkeit um die Einschätzung der Gerichte, wie viel eine Person in der Lage ist zu bezahlen – und deutsche Gerichte setzen gerne hohe Geldstrafen fest.
Und:
Umwandlung von Fahren ohne Fahrschein in eine Ordnungswidrigkeit: Dass die Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein ungerecht ist, hat sich mittlerweile in der Gesellschaft etabliert. Die oft diskutierte Lösung, das Vergehen in eine Ordnungswidrigkeit umzuwandeln, greift jedoch zu kurz, um das Unrecht zu beseitigen. Fahren ohne Fahrschein ist ein gängiger Vorwand für die Polizei, um von Rassismus betroffene Menschen, Migrant*innen, Menschen ohne festen Wohnsitz, und andere zu diskriminieren. Wenn das Delikt in eine Ordnungswidrigkeit umgewandelt wird, kann die Polizei weiterhin unter diesem Vorwand unvermindert Racial Profiling betreiben. Es würde nichts an der Praxis und Erfahrung der Kriminalisierung ändern. Zudem gibt es bei Ordnungswidrigkeiten auch die Möglichkeit der Erzwingungshaft, eine weitere Haftform bei Nichterbringung von Bußgeldern.
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