KRITISCHE ANALYSE DES BERICHTS DER JUSTIZMINISTER ZUR ERSATZFREIHEITSSTRAFE


Einleitung

Dieses Briefing analysiert den Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten - Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB (auch „JuMiKo-Bericht“ or einfach nur „Bericht“), der im Jahr 2019 abgeschlossen wurde. Mit „Ersatzfreiheitsstrafe“ bezeichnet man in Deutschland die Inhaftierung von Personen, die aufgrund von Bagatelldelikten verhängte Geldstrafen nicht bezahlen. In den letzten vierzig Jahren hat sich der Anteil der Fälle, die zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen, verdoppelt.i Schätzungsweise 56.000 Personen werden jedes Jahr wegen Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert.ii

Im Jahr 2016 hat das brandenburgische Justizministerium auf der Justizministerkonferenz der Länder einen Antrag zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe gestellt. Der Antrag erlangte keine Mehrheit, stattdessen setzten die Justizminister*innen eine Arbeitsgruppe zur Reform der Ersatzfreiheitsstrafe ein, aus der der JuMiKo-Bericht hervorging.iii Seit der Einführung von Tagessätzen iv und der Ersatzfreiheitsstrafe in den frühen 1970er Jahren wurden zwar verschiedene Reformen vorgeschlagen, um den Rückgriff auf Ersatzfreiheitsstrafen zu verringern, doch wurden nur wenige substanzielle gesetzliche oder politische Änderungen vorgenommen -- und keine davon hat den Trend zunehmender Haftstrafen umgekehrt. Die Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, Reformideen zu bewerten und vorzuschlagen.

Aus unserer Sicht bildet der JuMiKo-Bericht die Grundlage für den aktuellen Referentenentwurf von Justizminister Marco Buschmann. v In diesem Briefing zeigen wir jedoch, warum es problematisch ist, politische Reformideen auf den JuMiKo-Bericht zu stützen: Der Bericht ist problematisch, da er von zwei sachlich unzutreffenden Prämissen ausgeht: Erstens, dass Armut in Deutschland nicht zugenommen hat; und zweitens, dass Armut keine Ursache für Ersatzfreiheitsstrafen ist. Beides steht im Widerspruch zu unabhängiger sozialwissenschaftlicher Forschung sowie zur öffentlichen Wahrnehmung.

Indem der Bericht leugnet, dass Armut eine der Ursachen für Ersatzfreiheitsstrafen ist, lehnt er substanzielle Reformen ab, die dieser Realität Rechnung tragen würden. Stattdessen schlägt er nur marginale Änderungen vor. Die wichtigste Empfehlung des Berichts besteht darin, die Dauer der Haftstrafen zu verkürzen. Diese Änderung wird die Zahl der jährlich inhaftierten Personen allerdings nicht substanziell verringern — und lässt damit den ungerechten Umstand, durch den die Kommission überhaupt erst zustande kam, unangetastet. Diese Reform ist nun der Hauptbaustein im Referentenentwurf von Justizminister Marco Buschmann.

In diesem Briefing analysieren wir die 275 Seiten des JuMiKo-Berichts, heben die 7 wichtigsten Ergebnisse hervor und fassen die Empfehlungen des Berichts zusammen. Dieses Briefing ist eine der ersten Analysen des Berichts. iv Wir kommen dabei zu dem Schluss, dass wir über die Ideen des JuMiKo-Berichts hinausgehen müssen, um zu substanziellen Veränderungen zu gelangen.

Die 7 Wichtigsten Ergebnisse

  1. Auf fragwürdiger Datengrundlage und im Widerspruch zu bekannten ökonomischen Fakten beruht die Argumentation des JuMiKo Berichts auf der Prämisse, dass Armut nicht gestiegen sei und deshalb die gestiegene Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht erklären könne.

  2. Der Bericht geht fälschlicherweise davon aus, dass Menschen absichtlich nicht zahlen.

  3. Der Bericht lehnt echte Lösungen ab, indem er Stereotypen über Menschen bedient, die mit Ersatzfreiheitsstrafen konfrontiert sind.

  4. Der Bericht befürwortet Minimalreformen, die vor allem darauf abzielen, die Zahlungsquote bei Geldstrafen zu erhöhen.

  5. Die Rechnung geht nicht auf. Eine einfache Rechnung zeigt, warum die Tagessätze angesichts der finanziellen Verhältnisse der Verurteilten nicht niedrig genug sind.

  6. Der Bericht ignoriert Rassismus im Bezug auf Geld- und Ersatzfreiheitsstrafen.

  7. Zum Teil scheint für den Staat die Erhöhung des eigenen Einkommens im Vordergrund zu stehen.

Laden Sie den vollständigen Bericht herunter, um unsere Analyse zu lesen.

 

Fußnote

i Kantorowicz-Reznichenko, Elena, and Michael Faure, eds. Day fines in Europe: Assessing income-based sanctions in criminal justice systems. Cambridge University Press, 2021.
ii Diese Zahl stammt aus der letzten Volkszählung zu diesem Thema, die 2003 durchgeführt wurde.
iii Aufgabe der Bund-Länder-Arbeitsgruppe sollte sein, eine etwaige Neugestaltung der Ersatzfreiheitsstrafe sowie weitere Verbesserungen des bestehenden Instrumentariums zur Haftvermeidung eingehend zu prüfen und dabei auch neue Vorschläge sowohl zur Anordnung als auch zur Abwendung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in den Blick zu nehmen.” (Jumiko-Bericht S. 11).
iv Der Begriff “Tagessatz” bezieht sich auf das System, mit dem Deutschland geringfügige Straftaten ahndet. Die Menschen werden zu Geldstrafen verurteilt, die theoretisch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Person zugeschnitten sind.
v https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_Ueberarbeitung_Sanktionsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=2#:~:text=Der%20Entwurf%20schlägt%20vor%3A,Tagessätze%20einem%20Tag%20Ersatzfreiheitsstrafe%20entsprechen.
vi Der Staat hat den Bericht erst veröffentlicht, als die zivilgesellschaftliche Transparenzorganisation Frag den Staat darauf drängte. Frag den Staat veröffentlichte das Dokument im Januar 2022. Für weitere Analysen, siehe auch Bögelein, Nicole: Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe im COVID-19-Pandemieverlauf Vorgehensweisen der Bundesländer von März 2020-März 2022. Neue Kriminalpolitik, 34(2), S. 205-227. doi: 10.5771/0934-9200-2022-2-205.

Mitali Nagrecha

Mitali Nagrecha ist die Koordinatorin von Justice Collective.

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