IT-Versagen der Regierungen darf nicht zu Lasten der Gefangenen fallen
Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fordert Vollstreckungsstopp, Sammelgnadenerlass und Aufklärung
Zum Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe zählen unter anderem: #BVGWeilWirUnsFürchten | Entknastung - Naturfreundejugend Berlin | EXIT-EnterLife e.V. | freiheitsfonds | Gefangenen Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO) | ISD-Bund e.V.| Justice Collective, e.V. | Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. |
Berlin, 11.09.2023
Wie diverse Medien zuletzt berichteten (u.a. LTO, SZ, taz und nd, nachdem die BAG-S darauf aufmerksam machte), soll die Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe, die der Bundestag Ende Juni beschlossen und auf den 1. Oktober angesetzt hatte, um vier Monate verschoben werden. Grund dafür ist: Ein Verbund aus neun Bundesländern unter der Federführung Bayerns scheitert daran, ihre IT-Systeme rechtzeitig anzupassen.
Dass zukünftig ein Tag Gefängnisstrafe für zwei Tagessätze einer Geldstrafe aufwiegt (statt wie bisher für einen Tagessatz), stellt für die von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen genutzte Software web.sta angeblich eine aktuell unüberwindbare Hürde dar. Der Bundestag schleuste daraufhin am 18. August eine Anpassung des Gesetzes zur Ersatzfreiheitsstrafe in ein Gesetz zur Verkehrsstatistik – Aufschiebung durch die Hintertür.
Die Verantwortlichen in der Bundes- sowie in den Landesregierungen handeln in diesem Fall dreist, unverantwortlich und menschenfeindlich: Anstatt für das staatliche Versagen geradezustehen und aufzukommen, sollen die Konsequenzen nun von den Gefangenen getragen werden. Im Klartext heißt das: Während die Länder noch weitere Monate dafür beanspruchen, ihre IT-Systeme umzustellen, müssen weiterhin Menschen dafür ins Gefängnis, dass sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können – und zwar doppelt so lange, wie eigentlich gesetzlich beschlossen.
Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fordert vor diesem Hintergrund:
den sofortigen Vollstreckungsstopp der Ersatzfreiheitsstrafe;
einen Sammelgnadenerlass für alle von einer Ersatzfreiheitsstrafe Betroffenen mindestens bis zur erfolgreichen Software-Anpassung;
die lückenlose Aufklärung und Aufarbeitung seitens der verantwortlichen Regierungen, wie es zu diesem folgenschweren IT-Versagen kommen konnte;
die vollständige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe als einfachstes und sinnvollstes Mittel, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.
Für diese Zwecke fügen wir diesem Schreiben einen Fragenkatalog bei. Die Fragen richten wir einerseits gezielt an die Regierungen und andererseits an Vertreter*innen der Presse, um weitergehende Recherche anzuregen.
Grundlegende Kritik am System Ersatzfreiheitsstrafe
Unser Bündnis hat in den Diskussionen um die in diesem Jahr beschlossene Gesetzesänderung zur Ersatzfreiheitsstrafe wiederholt darauf aufmerksam gemacht (u.a. auch bei einer Anhörung im Bundestag), dass diese Strafe eine Form von Armutsbestrafung darstellt. Denn wer in Deutschland eine Geldstrafe bezahlen kann, tut dies auch und wird tatsächlich mit einer Geldstrafe geahndet. Für diejenigen, die jedoch nicht genügend Geld zur Verfügung haben, um eine solche Strafe zu bezahlen, bedeutet es, dass sie stattdessen ins Gefängnis müssen. Bei der Ersatzfreiheitsstrafe zeigt sich also eindrücklich, dass Recht und Vollstreckung in diesem Land nicht für alle Menschen gleich gelten.
Gefängnisse lösen jedoch nicht die sozialen Probleme, die oftmals hinter Geldstrafen bzw. Ersatzfreiheitsstrafen stecken. Weder Fahren ohne Fahrschein noch Lebensmitteldiebstahl oder andere geringfügige Delikte, die oft zu Ersatzfreiheitsstrafen führen, lassen sich durch Wegsperren vermeiden, sondern nur durch eine solidarische Gesellschaft. Stattdessen verstärken Gefängnisse soziale Ungleichheit, indem sie vor allem zur Regulierung und räumlichen Isolierung gesellschaftlich marginalisierter Menschen dienen. Je mehr Zeit diese Menschen im Gefängnis verbringen müssen, desto schädlicher wirkt es sich auf sie aus. Selbst ein einziger Tag im Gefängnis kann Leben zerstören.
Vollstreckungsstopp ist nötig und möglich
Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass ein Vollstreckungsstopp, wie wir ihn fordern, möglich ist: Während der Corona-Pandemie setzten alle Bundesländer die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe aus. Wie die Kriminologin Nicole Bögelein in ihrem Forschungsbericht zu diesen Maßnahmen schreibt: „Plötzlich ging alles ganz einfach“. In diesem Zuge hat beispielsweise das Land Berlin auch mehrere Sammelgnadenerweise erlassen, was in dem aktuellen Fall ebenfalls als Vorbild dienen kann. Denn vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass kein Mensch die Ersatzfreiheitsstrafe braucht und dass es ohne diese Strafe sehr wohl geht.
Es kann nicht sein, dass die Verantwortlichkeit für ein IT-Versagen der Länder von denen getragen wird, die von einer Ersatzfreiheitsstrafe betroffen sind. Genau das aber bewirkt die nachträgliche Gesetzesänderung, die die Bundesregierung kürzlich durch die Hintertür schleuste. Um sowohl den Bund als auch die Länder zur Verantwortung zu ziehen, verlangen wir eine Beantwortung der folgenden Fragen. Interessierte Journalist*innen regen wir zudem dazu an, diesbezüglich weitere Nachforschungen anzustellen.
Fragen zur Gesetzesverschiebung EFS
Warum begann die Arbeit an der Umstellung der IT-Systeme der Länder nicht mit dem Beschluss im Bundeskabinett im Dezember 2022?
Wann signalisierten welche Bundesländer erstmals Probleme mit der Anpassung der IT-Systeme?
Mit welchem Kenntnisstand mit Blick auf die Umsetzbarkeit wurde das Gesetz vom Deutschen Bundestag zum 1. Oktober 2023 beschlossen?
Wie viele Menschen sind schätzungsweise bis 1. Februar 2024 direkt durch das verschobene Inkrafttreten des Gesetzes zur Halbierung der Tagessätze der Ersatzfreiheitsstrafe in den jeweiligen Bundesländern betroffen?
Wie beurteilen die Regierungen die durch das IT-Versagen ausgelöste direkte Benachteiligung von Menschen in Haft juristisch?
Welche personellen Konsequenzen hat diese IT-Panne?
Warum lässt sich die Halbierung der Tage nicht händisch in das entsprechende IT-System einpflegen?
Wie ist es möglich, dass die anderen sieben Bundesländer solche IT-Probleme nicht haben, die Menschen dort aber dennoch gleichermaßen von der Benachteiligung betroffen sind?
Wie kann eine simple mathematische Halbierung der Haft eine IT-Software bzw. das verantwortliche Unternehmen vor derartig langwierige Anpassungsprozesse stellen?
Wie sieht der Zeitplan für die Anpassung aktuell aus?
Welche Entschädigung ist auf Bundes- und Länderebene für die Betroffenen in den Gefängnissen vorgesehen?
Welche Garantien gibt es für die neue Frist zum 1. Februar 2024?
Welche Kosten entstehen durch den Aufschub und die damit verbundenen Systemanpassungen für Länder und Bund?
Welche Bundesländer reagieren nun mit dem nötigen Vollstreckungsstopp der Ersatzfreiheitsstrafe ab dem 1. Oktober 2023?
Mit welcher Begründung wurde die IT-Betreuung im Strafrecht der Länder überhaupt an ein externes Unternehmen delegiert und kommt dieses Unternehmen bei der benötigten Software-Anpassung von "web.sta" in Kontakt zu sensiblen Gefangenendaten?
Kontakt:
Anthony Obst, Justice Collective, +49 176 22294936, anthony@justice-collective.org
Manuel Matzke, GG/BO, +49 162 4740275, manuel.matzke@ggbo.de
ersatzfreiheitsstrafe.de